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Geschichten

Die Blume

 

Es wuchs einst eine Blume an einem etwas eigenartigen Ort. Der Wind hatte den Samen von der vielfarbigen Alpwiese in die Höhe getragen, wo er ein kleines Plätzchen mit ein wenig Erde und Gras in einer schattigen Felsnische fand. Die Sonne erreichte diese Einbuchtung nur für wenige Stunden am Tag, so dass nicht ausreichend Licht und Wärme für eine gesunde und artgerechte Entwicklung der Blume vorhanden war. So wuchsen aus dem kleinen Samen nur langsam die Blätter und der Stängel hervor. Längst war es Herbst geworden und die Blume hatte erst gerade begonnen, eine Blütenknospe hervorzubringen. Noch während es empfindlich kälter wurde und bereits erste Schneeflocken fielen, öffnete die Blume ihren violetten Blütenkranz. Sie war weit und breit die einzige noch blühende Pflanze und fristete ihr Dasein zudem an einem einsamen und verborgenen Ort. Traurig liess sie ihr Köpfchen hängen.

 

Ein junger Jäger, der einer Gämse nachgestiegen war, entdeckte dieses strahlende Wunder und staunte, um diese Jahreszeit noch eine blühende Blume in dieser Höhe zu finden. Die Blume erschrak, als sie bemerkt worden war. Kurzerhand pflückte der Jüngling die Blume und nahm sie mit ins Tal. Am Abend machte er sich auf, klopfte bei seiner Geliebten an und überreichte ihr die Spätblüherin. Voller Liebe drückte die junge Frau das Geschenk an ihre Brust und verdankte es ihrem Verehrer mit einem Kuss.

 

Die Blume wurde von der jungen Frau in ein dickes Buch gelegt und nach einiger Zeit auf eine vorbereitete Seite ihres Tagebuchs geklebt. Die Farben der Blüte, der Blätter und des Stängels waren ein wenig verblasst, aber trotzdem strahlte die violette Blume auf dem blütenweissen Papier eine innige Ruhe und Freude aus. Die zukünftige Braut hatte geschrieben: „Dieses Geschenk machte mir mein Geliebter am Tag meines Geburtstags. Die Blume hat ihre Blütenpracht extra bis zu diesem Tag aufbehalten, um mir damit eine grosse Freude zu machen!“ Die Blume erkannte, dass ihr abgeschiedenes, verborgenes, schattiges und verspätetes Dasein einen tieferen Sinn hatte.

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© 2011

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